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Von zwiebelfischen und Hurenkindern

In dieser neuen Rubrik möchte ich Ihnen Fachbegriffe aus der Typografie vorstellen und damit einen amüsanten Einblick in meinen Lektorenalltag geben:
 
Hurenkind, das
Kind einer Prostituierten
Neutrum (in der Realität in den meisten Fällen aber feminin, maskulin oder divers)
Singular (im worst case auch Plural)
(uneheliches, ungewolltes) Kind einer Prostituierten, führte häufig zum Kindsmord; bei uns dürfen zwar auch Hurenkinder leben, meist kümmern wir uns aber um ihre textuelle Inklusion. In der Druckersprache bezeichnet ein Hurenkind (nicht zu verwechseln mit dem Hurensohn!) die letzte Zeile eines Absatzes, die am Beginn einer neuen Spalte oder Seite steht – also nach wie vor der isolierte Outlaw und deswegen leicht zu erkennen.
Frühere Bezeichnungen waren Hundesohn, Missgeburt und Witwe, die alle darauf anspielen, dass dem Hurenkind sein inhaltlicher Zusammenhang abhandengekommen ist.
 
Huri, die
Nicht zu verwechseln mit dem oben genannten Hurenkind, sondern die arabische Bezeichnung für
Jungfer, die
In beiden Fällen Feminin, Singular
Während der arabische Begriff eine der 72 schönen Jungfrauen im islamischen Paradies beschreibt, wird Jungfer heute meist abwertend verwendet. Rein, attraktiv, bezaubernd und eine Freude fürs Lektoren- und Setzerauge ist die Jungfer in der Typografie allerdings ganz in der islamischen Tradition eine fehlerlos gesetzte Seite von perfekter Schönheit.
 
Hat die Jungfer ihren adäquaten Lebensmenschen gefunden, darf Hochzeit gefeiert werden:
Hochzeit, die
Feminin, Singular
Im normalen Leben ein Grund zur Freude ist die Hochzeit den Setzern und Lektoren ein Graus. Bei ihr handelt es sich nämlich um Wörter oder Textpassagen, die versehentlich doppelt gesetzt wurden. Ein Déjà-vu der unangenehmen Art und Anlass genug, sich die Hochzeit noch einmal zu überlegen …

Wie bei jeder großen Festivität wird auch bei Hochzeiten Wert auf ein ausgefallenes Menü gelegt. Ein beliebtes Fingerfood sind in unserem Kontext kleine, in Zwiebeln gedünstete Fische, kurz:
 
Zwiebelfisch, der
Maskulin, Singular
Bei Zwiebelfischen handelt es sich um einzelne Buchstaben innerhalb eines Textes, die falsch formatiert sind, zum Beispiel in einer anderen Schriftart oder kursiv statt recte. Sie fallen also gerne aus der Reihe, was daran liegen mag, dass sie ihre minderwertige Herkunft (Alburnus lucidus, so der lateinische Name unseres fischigen Freundes, galt als Speise der armen Leute) gerne durch extrovertiertes Auftreten kompensieren. Ursprünglich mischten sich diese gegen den Strom schwimmenden Fische in den Setzkasten, wenn beim Ablegen einzelne Lettern versehentlich in den falschen Kasten einsortiert wurden.
Kam das häufiger vor, wurde die entsprechende Setzerei gerne auch als Zwiebelfischbude bezeichnet.

Eine beliebte Beilage zu gedünstetem Zwiebelfisch ist frisch gebackenes Brot. In unserem Fall

Brotschrift, die
Feminin, Singular
Sehr gerne übrigens auch Plural, denn das Wort ist nach wie vor das Brot des Lektors.
Entsprechend versteht man unter Brotschrift Schriftarten, in denen der Mengen- oder Fließtext gesetzt wurde, also der Text, mit dem die Schriftsetzer im Wesentlichen ihr Brot verdienten. Da sie nach der gesetzten Menge bezahlt wurden, macht diese Bezeichnung durchaus Sinn, wobei damals wie heute gilt: Quantität schließt Qualität nicht aus!
Brotschriften machen auch heute noch den Großteil des Lektorenbrots aus, denn ihnen begegnet er fast täglich in Gestalt von Baskerville (wenn er den Playboy lektorieren darf ...), Minion (bei fast allen anderen „Fach“zeitschriften ...) und Times (wie der Name schon sagt: die Königsklasse des Lektorats). In jedem Fall eine schöne Gelegenheit, sich eine Scheibe abzuschneiden.

Ist die Ehe erst einmal vollzogen, lassen die Kinder nicht lange auf sich warten (was früher galt, ist heute zum Glück überholt, das britische Königshaus blenden wir hier großzügig aus und dass Ehe sowieso noch nie Voraussetzung für Kinder war, beweist oben „H“ wie „Hurenkind“), darunter auch der eine oder andere hübsche Schusterjunge:
 
Schusterjunge, der
Maskulin, Singular
Klingt genauso frech wie er ist und stellt das perfekte Pendant zum Hurenkind dar.
Während das Hurenkind nicht weiß, wo es herkommt (wie auch!), steht der Schusterjunge noch am Anfang seiner Karriere und weiß nicht, wo er hinsoll. Unter einem Schusterjungen versteht man entsprechend eine am Ende einer Seite oder einer Spalte stehende Zeile eines Absatzes, welcher erst auf der nächsten Seite so richtig beginnt, den Schusterjungen aber im Eifer des Gefechts unterwegs verloren hat.
Während der Schusterjunge (auch als Waise oder Findelkind bezeichnet) also bildhaft eigenständig im Keller die Zwiebelfische sortiert, steht das Hurenkind oben verloren auf der Straße (und verkauft im besten Fall gedünstete Fische). Beiden ist aber ganz leicht durch eine textuelle Inklusion zu helfen, denn soziale Ausgrenzung sollte es auch in typografischen Straßenszenen nie geben!

Apropos „Ehe vollziehen“ (um es mal jugendfrei auszudrücken): Auch dafür haben wir natürlich einen schönen Ausdruck, nämlich:

Ligatur, die
Feminin, Singular
die tatsächlich nichts anderes als die Verschmelzung zweier (oder mehrerer – jetzt hört es auf, jugendfrei zu sein) Körper, pardon, Buchstaben meint. Heute ganz offiziell und korrekterweise vor allem in Fremdwörtern wie zum Beispiel Œuvre
zu finden. Die berühmteste, eleganteste und zugleich vermutlich den wenigsten bewusste Ligatur ist übrigens „&“ als formvollendete Verschmelzung von „e“ und „t“ („et“).

Dass wir uns täglich mit Ligaturen beschäftigen, gehört hingegen ins Reich der Klischees, mit denen freilich auch wir arbeiten, wenngleich sie nicht bedienen:
 
Klischee, das
Neutrum, Singular
Heute im Sinne von Stereotypie eher als eingefahrene (unhinterfragt kolportierte) Meinung gebräuchlich, bezeichnete Klischee ursprünglich die Nachbildung eines Originals (beispielsweise als Kupferstich oder Holzschnitt) und legte als solche den Grundstein für unser mediales Zeitalter, das ohne visuelle Impulse undenkbar wäre, leider aber immer noch zur Verbreitung von Klischees beiträgt, weswegen es auch zu unseren Aufgaben gehört, diese genau zu prüfen.
 
Jede Sache hat also ihren Haken, in unserem Falle aber einen besonders (form)schönen und nützlichen, nämlich den Winkelhaken.
 
Winkelhaken, der
Maskulin, Singular
Leider nicht ganz so edel, aber mindestens genauso effektiv und wertvoll wie der Winkel der Freimaurer stellte der Winkelhaken der Schriftsetzer (auch Lehre oder Kelle genannt) eine winkelrechte Schiene mit verstellbarem Winkelstück (das den herrlichen Namen „Frosch“ trägt) dar. Gefertigt aus Zinn oder Stahl, meist aber aus besonders robustem Neusilber (auch als „Alpaka“ bezeichnet, was gut zum Frosch passt), bildete der Winkelhaken das Markenzeichen der Setzer, mit dessen Hilfe sie Buchstaben in geometrischer Perfektion zu Wörtern aneinanderreihen konnten.
Unter anderem für den Männchensatz war dieses Werkzeug unentbehrlich:
 
Männchensatz, der
Maskulin, Singular
Ähnlich wie das Klischee kann man den Männchensatz am besten mit dem Begriff „Abklatsch“ umschreiben, verbirgt sich dahinter doch nichts anderes als der exakte Neusatz eines Werkes und damit wie beim Klischee eine unschöpferische Nachbildung.
Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Männchensatz um eine reichlich stupide Tätigkeit handelt, verzichten wir deshalb hier auch bewusst aufs Gendern.
 
Viel spannender sind da schon die Leichen, denen wir manchmal öfter begegnen als mancher Totengräber, die wir – anders als Letzterer – aber wieder zum Leben erwecken können.
Am Ende eines langen und erfüllten Lebens als Schusterjunge, Hurenkind oder Zwiebelfisch steht nämlich keineswegs zwangsläufig der Tod:
 
Leiche, die
Feminin, Singular, oftmals auch Plural
bezeichnet bei uns vielmehr ein versehentlich ausgelassenes Wort oder manchmal sogar eine ganze Textpassage. Diese Ansammlung von Wort-Zombies kann einem Lektor zwar das kalte Grauen lehren, lässt sich aber genauso leicht beheben, indem die durch Abwesenheit glänzenden Korpusse (manchmal gar Korpora) im Text ergänzt und an die richtige Stelle gesetzt werden.

Und wenn sie nicht gestorben sind …
… dann begegnen wir ihnen spätestens im nächsten (vielleicht Ihrem?!) Projekt, was allemal Grund zur Freude ist! Denn zum stilvollen literarischen Leichenschmaus gehören definitiv Zwiebelfische und Brotschriften, serviert von Hurenkindern und Schusterjungen ...

© Cultura & Lectura  2016-2022.    Dr. phil. Frauke Bayer

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